In diesem Kapitel werden die Möglichkeiten und Folgen der Digitalisierung von mechatronischen Produkten analysiert. Durch diese allgemeine Sicht können ausgewählte Aspekte der Digitalisierung und deren Zusammenhänge, die aus einer technologischen Weiterentwicklung resultieren, aufgezeigt werden. Abschnitt 3.1.1 erläutert die Folgen der Kommunikationsfähigkeit der Produkte. In diesem Zusammenhang erfolgen Ausblicke auf die Prozessautomation und die Erweiterung von Kundenzugängen. Die Möglichkeiten, die aus einer Datenerfassung und -analyse resultieren, sind Bestandteil von Abschnitt 3.1.2. Inhalte des Abschnitts 3.1.3 sind die sich aus den vorherigen Ausführungen ergebende Kundenzentrierung und deren Folgen.
3.1.1 Vernetzung und Kommunikation
Die technologischen Errungenschaften führten zu einem starken Wandel in der weltweiten Kommunikation, in der Gesellschaft und in der Industrie.187 Die voranschreitende Globalisierung liegt vor allem in neuen Kommunikationsmitteln, aber auch in liberaleren Handelsbedingungen und vereinfachten Transport – und Transaktionsmöglichkeiten begründet. Die Auswirkungen sind multinationale Unternehmen und ein steigendes Wirtschaftswachstum sowie eine zunehmend komplizierte und weltweite Arbeitsteilung.188
MEYER ET AL. führen an, dass neben der stärker gewordenen globalen Ausrichtung von Geschäftsaktivitäten auch die Interdisziplinarität zu heterogenen Produkten führt. Komplexe Wertschöpfungsnetzwerke, Kooperationsbeziehungen und Distributionsnetzwerke sind häufig international ausgerichtet.189
Unternehmen wird dies durch kostengünstige und verbesserte Vernetzungstechnologie ermöglicht. Durch diese Vernetzungsentwicklung entstehen neue Möglichkeiten der Kooperation unterschiedlicher Akteure, die z.B. durch Vernetzung Daten austauschen und damit Prozessschritte automatisch anstoßen.190 Das so entstehende digitale Netz von intelligenten191 Systemen und Prozessen ermöglicht, dass immer mehr Prozessschritte selbstständig ausgeführt werden können.192 Im industriellen Kontext nennt man die Zusammenlegung der vertikalen und horizontalen Wertschöpfung auch Wertschöpfungsnetzwerk. Diese birgt immense Potentiale, die zu der Vision der smarten Fabrik führen sollen (siehe Abschnitt 2.3.3).193
Dabei spielen flexible, hoch vernetzte Automatisierungssysteme, die sich untereinander selbst steuern und rekonfigurieren (vgl. Abschnitt 3.2.3), eine bedeutende Rolle.194 Produktionsstrukturen sind nicht mehr im Vorhinein konkret festgelegt, sondern flexibel konfigurierbar. Eine lineare Abfolge von Planung und Fertigung wird durch einen ständigen iterativen Ablauf ersetzt, der sich jederzeit der Realität anpasst und somit Flexibilität erlaubt.195 Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die bestehenden Produkte, die zukünftig produziert werden, sondern auf das komplette Leistungsversprechen des Unternehmens. 196
Im industriellen Kontext sind die Erwartungen hinsichtlich einer kompletten Vernetzung von Zulieferbetrieben, Produktion, Logistik, Marketing und Vertrieb bis hin zum Kunden enorm hoch. Diese soll Wettbewerbsvorteile, Flexibilität, Schnelligkeit, Kostenvorteile , Kundenorientierung und kürzere Innovationszeiten mit sich bringen.197,198
Vernetzung und die damit verbundenen Entwicklungen beeinflussen nicht nur die Produktion, sondern auch die Konsumption.
Vernetzung zum Kunden
Durch die Vernetzung weisen digitale Kundenzugänge verschiedene Ausprägungen auf und das Kundenmanagement wird zunehmend anspruchsvoller199 – von der Erfassung historischer Nutzungsdaten über das Erfassen und Analysieren von Nutzungsdaten in Echtzeit bis hin zur Interaktion mit dem Kunden über das Produkt selbst.200,201 Der digitale Kundenzugang ermöglicht B2B-Unternehmen direkten Endkundenkontakt zu erhalten, woraus sich neue Geschäftsmodelle im Bereich B2B2C ergeben.202
Vernetzte Produkte ermöglichen es dem Benutzer selbst aktiv zu werden. Dies hat eine erhöhte Kundenpartizipation und Kommunikation über den gesamten Produktlebenszyklus zur Folge. Kunden werden Teil der Wertschöpfungskette und beteiligen sich aktiv in Form von Produktkonfiguration oder Produktinnovation.203,204 Mit wachsender Bereitschaft, Daten zur Verfügung zu stellen, wachsen auch die Erwartungen an die Transparenz von Unternehmen, d.h. bezüglich der Frage, welche Daten zu welchen Zweck erhoben werden.205
Auf der anderen Seite bringt eine Vernetzung auch Gefahren. Wenn sich Störungen und Probleme lawinenartig ausbreiten, können soziale Schäden hervorgerufen werden. Ebenso können digitale Angriffe (Cyber Crime) die Existenz des Unternehmens bedrohen. Dadurch werden entsprechende Sicherheitsfunktionen zu geschäftskritischen Aufgaben, die in der Produktentwicklung berücksichtigt werden müssen. Auch Fragen der Datensicherheit, des Datenschutzes und der Einhaltung der Privatsphäre sind zu klären. 206
Die allgegenwärtige Vernetzung durch Produkte und Systeme sorgt für die Möglichkeit der Prozessautomatisierung über Unternehmensgrenzen hinweg, hin zu flexible Wertschöpfungsnetzwerke. Konnektivität führt zu der Möglichkeit, aus Daten Informationen zu gewinnen, und ist inhaltlicher Bestandteil des nächsten Abschnitts.
Daten und Automatisierung
Herrscht eine umfassende Vernetzung im Unternehmen und werden Daten nicht isoliert von der restlichen Informationsverarbeitung erfasst, helfen Daten bei der Identifikation und Schaffung neuer Potentiale.207 In einer Studie zum Thema „Engineering im Umfeld der Industrie 4.0“ sahen drei Viertel der Befragten bezüglich der Produkt- und Produktnutzungsdaten durch die Daten und Algorithmen einen Mehrwert.208
Über den Produktlebenszyklus hinweg generieren mechatronische Produkte viele Daten, die für weitere Zwecke genutzt werden können. Diese Daten sind für die meisten Akteure unverzichtbar und besitzen für Nutzer, Entwickler, Hersteller aber auch für Anbieter und Dienstleister einen Wert.209,210 Die Bezeichnung Big Data ist in diesem Zusammenhang ein bekannter Begriff geworden, allerdings ist die Herausforderung weiterhin gegeben, große, unstrukturierte Datenmengen zu beherrschen.211 SUTTER UND GASSMANN erachten es ebenfalls als Problem, dass produktorientierte Unternehmen oft nicht die benötigten Kompetenzen besitzen, um diese Daten auszuwerten. Eine denkbare Folge wäre dann, dass Unternehmen mit Datenanalyse-Partnern zusammen Produkte und Dienstleistungen entwickeln.212
Durch die Analyse und Auswertung vergangener Daten wird ein besseres Verständnis geschaffen, das zur Gestaltung der Zukunft herangezogen werden kann. Möglichkeiten reichen von einer Diagnose bis hin zur Vorhersage oder Zukunftsgestaltung durch intelligente Datenauswertungen.213 Die Anwendungsfelder sind vielseitig und reichen von unternehmensinternen Daten zur verbesserten Maschinenauslastung in der Produktion bis hin zum Vorhersagen eines individuellen Kundenverhaltens oder von Maschinenausfällen. Dies führt schließlich zu der Fähigkeit, ein auf die individuellen Bedarfe ausgerichtetes Markterlebnis zu schaffen.214,215
Bei der Bereitstellung enormer Datenmengen ist neben der Quantität vor allem die Qualität der Daten entscheidend für die darauf basierenden Anwendungen. Für eine Datenvorauswahl besteht die Notwendigkeit einer effizienten Datenvorbereitung in Form einer Reduktion und Abstraktion der Daten. Dies muss jedoch, um eine bessere Sicherheit und höhere Effizienz zu erreichen, hardwarebasiert erfolgen.216
Es entstehen durch die unternehmensübergreifende integrierte Analyse und Auswertung großer Datenmengen – gerade im Zusammenhang mit Nutzerdaten – vielfältige neue rechtliche Fragen. Diese beziehen sich nicht nur auf Fragen der Verfügungsbefugnis, sondern auch auf Fragen des Urheberschutzes und des Geheimnisschutzes.217 Vor dem Hintergrund vernetzter Systeme und deren Datenaustausch wird die Sicherstellung der Privatsphäre diskutiert und bedarf einer Entscheidung der Gesellschaft, der Nutzer und des Gesetzgebers.218 Es darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Aspekte eindeutiger Regelungen bedürfen, die Klärung aber nicht Gegenstand dieser Masterarbeit ist.
Kundenzentrierung und Service
Durch das Aufkommen der SMAC-Technologien219 (Akronym aus den Begriffen „social“, „mobil“, „analytics“ und „cloud“) und durch das Internet der Dinge (siehe IoT, 2.3.3) wird die Digitalisierung vorangetrieben und eine umfassende Datenerfassung wird ermöglicht. 220 Durch Kombination verschiedener Daten ist es möglich ein besseres Verständnis der individuellen Interessen und Bedürfnisse von Kunden zu erlangen.221 ARNOLD führt diesen Gedanken zusammengefasst unter dem Begriff „Datability“222 weiter und postulieren, dass „Unternehmen durch die Digitalisierung gezwungen werden, vom Kunden ausgehend Produkte zu entwickeln“.223
Durch die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft verändert sich die Nachfrage nach immer persönlicheren Produkten. Kundenindividuelle Produkte verändern die Anforderungen an Unternehmen in Bezug auf Konzeption, Verwaltung und im besonderen Maße die Entwicklung neuer Produkte.224
Dies schlägt sich nicht nur in kundenindividuellen Produkten nieder, sondern verändert auch die Produktlogik und äußert sich in Dienstleitungsorientierung und Verbraucherfreundlichkeit. 225 Die in den vorigen Abschnitten diskutierten Entwicklungen der Vernetzung, Datenerfassung und -verarbeitung ermöglichen neue internetbasierte Dienstleistungen226. Diese werden als Smart Services227 bezeichnet und stellen digitale internetbasierte Dienste dar, die Daten von physischen Produkten nutzen (siehe auch Abschnitt 3.2.4).228
Durch das Konzept der „Service Dominant Logic“ von VARGO UND LUSCH begann die auf Dienstleistung fokussierte Betrachtung, wie SUTTER UND GASSMANN anmerken.229 VARGO ET AL. behandeln die Zusammenhänge von Kooperation und Kontext, die zur Wertschöpfung führen.230 Demzufolge wechselt die Perspektive eines Leistungsaustausches zu einem Blick auf den Nutzen des Konsumenten durch die Inanspruchnahme einer Dienstleistung. 231 Der Ansatz legt den Fokus auf Aspekte der Integration, kundenspezifische Anpassung und Interaktivität.232
Diesem Schema folgt auch der Grundsatz Everything as a Service233 (kurz XaaS). Durch technologischen Fortschritt wird ermöglicht, das Kernprodukt als Dienstleistung anzubieten. Die Herausforderung für Unternehmen besteht darin, seine Produkte und Dienstleistungen so zu konzipieren, dass physikalische Produkte auf ihre essenziellen Funktionen reduziert und viele ihrer Funktionen digitalisieren werden, um diese dann in ein IT-System (Cloud) auszulagern. Auf digitalen Plattformen234 können die ausgelagerten Funktionen als Service erworben und ad hoc genutzt werden. So wird das Produkt zur Schnittstelle zwischen Kunde und Plattform. Ein prominentes Beispiel sind Mobiltelefone als Schnittstelle für Appstores.235 Neben den oben untersuchten Potentialen sind auch Herausforderungen vorhanden. Das Nutzen von Service Providern sorgt für erhöhte Abhängigkeiten. Zugleich bedarf es einer Auseinandersetzung mit den Themen Datensicherheit und Datenschutz.236
Smart Services adressieren diesen Dienstleistungsgedanken, indem materielle (in Form erweiterter Sensorik und Aktorik) wie auch immaterielle Komponenten (in Form von intelligenten internetbasierten Diensten) vereint werden (siehe Abschnitt 3.2.4).237,238 Kontextinformationen können durch Nutzerverhalten oder Sensoren erfasst und interpretiert werden und dann als Grundlage für Aktionen bzw. Reaktionen einem Dienst zur Verfügung gestellt werden.239,240 Ziele sind eine erleichterte Mensch-Maschine-Interaktion oder eine autonome Echtzeit-Reaktivität auf Umweltveränderungen.241 Synergieeffekte treten durch die Integration der Produkt – und Dienstleistungsbestandteile auf, darüber hinaus stellen Dienstleistungen eine weiter Umsatzquelle dar.242 Neuendorf leitet ab, dass diese neuen Leistungs- und Qualitätsstandards einerseits zu deutlich komplexeren Produkten mit neuartigem Nutzen führen werden und dass dies anderseits zu einem anspruchsvolleren Kunden führt wird. Dieser hat sehr spezifische Wünsche und erwartet stark individualisierte und konfigurierbare Produkte.243
Aus der zunehmenden Fokussierung auf den Kundennutzen, der durch die intelligente Datenerfassung und Verarbeitung unterstützt wird, resultieren flexible, anpassungsfähige Produkte mit internetbasierten Diensten. Zusammen mit den vorangegangen Themen führen individuelle Produkte zur Herausforderung der Flexibilisierung der Fertigung bis hin zur sogenannten Losgröße 1.244 Mit diesem Begriff wird das Ziel des wirtschaftlichen Herstellens von Massenprodukten in kundenspezifischer, individualisierter Stückzahl eins bezeichnet.245 Der Herausforderung, die aus der Losgröße-1-Fertigung resultiert, kann durch vernetzte, automatisierte und modulare Systeme begegnet werden.246 Die vorangegangenen Abschnitte zeigen den durch Vernetzung ermöglichten Nutzen, der auf die Datenübertragung und den Datennutzen zurückzuführen ist. Dieser Nutzen bedeutet Veränderungen im Unternehmenskontext, z.B. in der Automatisierung und Flexibilisierung der Wertschöpfungsketten, oder betrifft direkt den Kunden in Form der Kommunikation bzw. Konsumption. Es ist anzumerken, dass die vorangestellten thematischen Bereiche nicht isoliert voneinander zu betrachten sind. Vielmehr ist es die aufeinander aufbauende Kombination dieser Thematiken, die zu erheblichen Nutzenpotentialen führt. Um diesen Nutzen zu erreichen, sind die Systeme weiterzuentwickeln, was die Thematik des nächsten Abschnittes darstellt.
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