Vorgehensmodelle sind in der Produktentwicklung ein zentraler Bestandteil und helfen beim strukturierten Vorgehen. Durch die besonderen Eigenschaften einer Produktentwicklung sind eine Vielzahl von unterschiedlichen Vorgehensmodellen entstanden. Selbst geringfügig abweichende Vorgehensmodelle zur Darstellung des Projektablaufs haben ihre Daseinsberechtigung nachgewiesen, postulieren Förg et al.426 Demzufolge werden zunächst generelle Merkmale eines Entwicklungsvorhabens aufgezeigt. Daraufhin werden Einordnungsmodelle für Vorgehensmodelle im mechatronischen Umfeld betrachtet, um Einordnungsmerkmale abzuleiten und eine begründete Auswahl für die spätere Analyse treffen zu können.

Abschnitt 2.2 erörtert die Problemlösungstätigkeit und wesentliche Aktivitäten einer Produktentwicklung mechatronischer Produkte. Die produktbedingten technischen Parameter haben Einfluss auf den Produktentwicklungsprozess. Dies sind beispielsweise Validierung, Fertigung, aber auch Inbetriebnahme, Service und Kompetenzen in der Entwicklung. 427 Entwicklungsvorhaben besitzen neben den Entwicklungszielen und den Hauptzielen Zeit, Kosten und Qualität auch weitere unterstützende Elemente, die im Rahmen des Produktentwicklungsprozesses zum Erfolg führen.428 Eine Produktentwicklung hat Projektcharakter, jedoch können Entwicklungsaufgaben nicht direkt zu Beginn geplant werden, sondern erst nach und nach konkretisiert werden. Das beinhaltet, dass Entscheidungen oft auf unzureichenden Informationen basieren.429 Ein komplexes Entwicklungsprojekt umfasst in der Regel ein Netzwerk von Fachleuten aus verschiedenen Bereichen, welches mit zunehmender Größe immer schwieriger zu managen wird. Zudem lassen sich Auswirkungen einzelner Entwicklungsentscheidungen nur schwer vorhersagen, da sich die Auswirkungen wechselseitig beeinflussen. Demnach spielen Begleit- und Querschnittsaktivitäten eine bedeutende Rolle in der Produktentwicklung.430 Begleitaktivitäten stellen projektbezogene Aktivitäten wie Projekt -, Konfigurations- oder Qualitätsmanagement dar, wohingegen Querschnittsaktivitäten übergreifende Tätigkeiten im Rahmen einer Organisation beschreiben. Dazu zählen Prozess-, Varianten- und Wissensmanagement.431 So lässt sich festhalten, dass Produktentwicklungsprozesse eine hohe Komplexität und einen Projektcharakter sowie eine damit verbundene Neuartigkeit aufweisen. Um dem zu begegnen, wird oft iterativ und interdisziplinär vorgegangen.

Wie in Kapitel 3 erörtert, wachsen die Ansprüche an das zu entwickelnde Produkt, des Weiteren unterliegt die Produktentwicklung normativen Anforderungen. Produkte unterliegen schon des Längeren nationalen oder internationalen Normen und Richtlinien. Entsprechende Vorgaben gibt es auch bei der Gestaltung und der Durchführung von Entwicklungsprojekten. Reifegradmodelle stellen Anforderungen an die Produktentwicklung in indirekter oder direkter Form an Methoden oder Prozessen.432 Ziel der Reifegradmodelle ist neben der Bewertung auch die Verbesserung von Prozessen.433

Einordnung der Produktentwicklungsprozesse anhand von Merkmalen

Im Laufe der Jahre sind Vorgehensmodelle mit verschiedenem Zweck und aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus entstanden. Ein Einordnungsmodell im mechatronischen Umfeld, welches anhand von Merkmalen die Auswahl eins bestimmten Modells zulässt, ist nicht vorhanden. Daher werden nachfolgend Einordnungsmodelle bzw. Einordnungsvorgehen betrachtet, um solcheMerkmale herauszuarbeiten.

ULLMAN erstellte ein Klassifizierungsmodell für die Vorgehensmodelle in den 1990er Jahre. 434 Mit dieser „Taxonomy for Mechanical Design“ konnten Merkmale und Eigenschaften mechanischer Vorgehensmodelle anhand von drei Hauptgruppen – Umgebung, Prozess und Problem – verglichen werden.435 Diese Taxonomie kann auch heute noch für einen ersten Vergleich eingesetzt werden, da es wenige Kriterien sind und diese allgemein gehalten sind.436

In der VDI 2221 Blatt 2 werden Kontextfaktoren zur Gestaltung individueller Produktentwicklungsprozesse genannt. Anhand dieser kann eine Anpassung des dort aufgeführten allgemeinen Produktentwicklungsprozesses erfolgen. Zusammengefasst sind die bedeutenden Kontextfaktoren in externe und interne Faktoren aufgeteilt. Die makro- und mikroökonomische Ebene bilden die externen Faktoren und beinhalten Kriterien wie Gesellschaft, Markt und Kunde. Die internen Kontextfaktoren beschreiben das operative Umfeld der Produktentwicklung und sind aufgeteilt in Organisationsebenen, Projektebenen und individuellen Ebenen.437 Bei der in der Richtlinie VDI 2221 Blatt 2 aufgeführten Thematik handelt es sich um kein Einordnungsmodell, sondern einen Ansatz mit Merkmalen, die bei einer kontextspezifische Gestaltung von Entwicklungsprozessen Einfluss nehmen. Eine eindeutige Zuordnung zwischen Kontextfaktoren und Prozessmerkma len ist nicht möglich.438

 WYNN UND CLARKSON betrachten nicht nur mechatronische Produkte, sondern klassifizieren generelle Prozessmodelle in der Entwicklung. Ihr genereller Ordnungsrahmen439 teilt die betrachteten Modelle nach Reichweiten auf. Dabei werden Modelle bzw. Methodologien anhand einer „scope dimension“ von der Problemlösung auf der Prozessschrittebene (Micro) bis hin zur Ebene einer Projektstruktur sowie bis hin zum Entwickeln in verteilten Entwicklungsteams (Macro) aufgeteilt.440 Damit grenzen die Autoren phasenbasierte Modelle von aktivitätsbasierten Modellen ab. Besonders grob dargestellte Vorgehensmodelle werden auch häufig als Phasenmodelle bezeichnet.441 In der übergeordneten zweckgerichteten Dimension (Model type dimension) werden Modelle in vier Grundtypen unterteilt:442

• Prozedurale Modelle weisen ein Best-Practices-Vorgehen auf.

• Analytische Modelle dienen der Überprüfung bestimmter Erkenntnisse; diese können zur Unterstützung oder Verbesserung herangezogen werden.

• Abstrakte Modelle vermitteln Theorien und Konzepte und haben ein hohes Level der Abstraktion.

Management-Science- / Operations-Research-Modelle (MS-/OR-Modelle) bedienen sich mathematischer oder computergestützter Analysen und Simulationen, um an neue Erkenntnisse zu gelangen.

Die hier vorgestellten Einordnungsmodelle und Verfahren dienen zur Bestimmung und Strukturierung von Produktentwicklungsmodellen. Sie vermitteln einen ersten Überblic k der Vielfalt der entwickelten Ansätze. Von besonderem Interesse sind die Gemeinsamkeiten der aufgezeigten Einordnungsversuche. Diese lassen sich zusammenfassen zu einer Prozesskategorie (Prozess, interne Kontextfaktoren, scope dimension). Diese Prozesskategorie steht im Fokus des eingeordneten Vorgehensmodells im Entwicklungsvorhaben. Ebenso zeigt sich, dass das Umfeld (Umgebung, externe Faktoren) als Merkmal zur Einordnung dient. Darunter fallen die Einbindung externer Partner sowie betriebswirtschaftliche Einflüsse.443 Der Ordnungsrahmen von WYNN UND CLARKSON beschränkt sich nicht nur auf den Mechatronik-Bereich, sondern fügt eine sinnvolle, zweckgerichtete Dimension hinzu. Es zeigte sich, dass neben der Problemlösungstätigkeit vor allem der Zweck, die Umfeld-, die Projekt- und die Prozessebenen eines Entwicklungsvorhabens von Bedeutung sind und diese passend gestaltet werden müssen.

Um die vorangestellte Fragestellung, ob ein Produktentwicklungsprozess für mechatronische Systeme den Anforderungen der Digitalisierung gerecht wird, zu beantworten, stellt sich neben der Frage nach oben aufgeführten Einflüssen auch die Frage nach einem Anspruch auf Aktualität.

Diesem Anspruch wird ein Referenzprozessmodell444 gerecht. BECKER UND SCHÜTTE definieren wie folgt: „Ein Referenz-Informationsmodell ist das immaterielle Abbild der in einem realen oder gedachten Objektsystem verarbeiteten Informationen, das für Zwecke des Informationssystem- und Organisationsgestalters Empfehlungscharakter besitzt und als Bezugspunkt für unternehmensspezifische Informationsmodelle dienen kann.“445 Umfang und Komplexität im Rahmen des Entwicklungsprozesses setzen eine unternehmerische Prozesslandschaft voraus,446 die von einer Referenzprozessmodellanalyse mit abdeckt wird. Referenzmodelle repräsentieren ein State-of-the-art Modell, das zum Abgleich von unternehmensspezifischen Prozessen und Informationssyst emen herangezogen kann und einen Ausganspunkt für weitere Spezifikationen bietet .447 Nach SCHEER weisen Vorgehensreferenzmodelle einen Problemlösungs- und Empfehlungscharakter auf und können beispielsweise nach branchenspezifischen oder softwarespezifischen Referenzmodellen unterschieden werden.448

Referenzarchitektur, -modelle und -systeme erhalten gerade in technologieorientiert en Bereichen, die einem raschen technischen Fortschritt unterliegen, einen hohen Stellenwert. 449

Der Einsatz von Referenzmodellen bringt eine Verbesserung in der Verständigung durch eine einheitliche Begriffswelt mit sich. Ein weiterer Vorteil besteht in der Risikominimierung durch das Aufdecken von Schwachstellen in bisherigen Abläufen und durch das in Referenzmodellen enthaltene Branchenwissen. Die Nachteile bei der Nutzung von Referenzmodellen liegen in dem Abstraktionsgrad, zu detaillierte Modelle adressieren nicht optimal die Anforderung des Unternehmens. Sind Modelle zu allgemein gehalten, müssen diese kostenaufwendig angepasst werden.450 Referenzprozessmodelle finden in Verbindung mit Reifegradmodellen Einsatz für eine Verbesserung von Entwicklungsprozessen. Prominente Reifegradmodelle sind beispielsweise das CMMI (Capability Maturity Model Integration) zur Qualitätsmessung oder das SPICE451-Reifegradmodell, welches zur Bewertung von Softwareprojekt-Prozessen verwendet wird. Diese Reifegradmess ungen einzelner Projekte sind unabhängig von der Prozessfähigkeit der gesamten Organisation. 452

Das State-of-the-Art-Referenzprozessmodell Automotive SPICE ist ein branchenspezifisches Modell zur Entwicklung softwareintensiver mechatronischer Systeme und wird zur Analyse herangezogen. Im nachfolgenden Abschnitt wird die Eignung anhand der Eigenschaften des Referenzprozessmodells vorgestellt.